
Wer seine Teilnehmer gezielt zu mehr Austausch und Interaktion anstachelt, aktiviert Schwarmintelligenz und kann Inhalte (be-)greifbar wie nie machen, aber auch Delegierte überfordern. Es kommt auf die richtige Format-Mischung für unterschiedliche Zielgruppen an.
Wie lehrt man die Kunst, Gruppen partizipativ zu führen und bei Diskussionen Teilnehmer einzubeziehen?
Beim Trainingsprogramm für partizipative Moderationsformen in Alpbach lernen es die Gäste, dem „Professional Programme on Facilitation and Participatory Leadership“ vom 17. bis 20. August 2016. Es ist Teil des „Alpbach Campus“ beim Europäischen Forum Alpbach, einer Großveranstaltung mit insgesamt 5.300 Teilnehmern 2016. „Jeder kann etwas sagen, muss aber nicht“ – es besteht also kein Zwang. „Man konnte auch nur zuhören“, sagt die Dozentin Ursula Hillbrand aus Bregenz, die unter anderem als Trainerin und Referentin im Bereich „Participatory Leadership“ für die Europäische Kommission arbeitet.
In den medizinischen Gesprächen, dem Konferenzteil für Ärzte und das Gesundheitswesen, moderiert Hillbrand zudem für über 100 Teilnehmer die Session „Medicine change makers in health system – harvesting and presentation of ideas“. Dabei geht es um die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Elf Pioniere dieses Bereichs, größtenteils Start-up-Gründer für digitale Produkte, stellen ihre Geschäftsideen vor: Wie aus dem Bereich der Telemedizin, die ärztliche Konsultationen per Chat und Videoconferencing ermöglichen soll, oder Gesundheitsapps, die für Mediziner künftig wichtige neue Quellen für Diagnose- und Patientendaten sein könnten.
Einladung ohne Zwang
Wichtig ist es Hillbrand dabei, nur eine Einladung zur Partizipation auszusprechen. „Jeder kann etwas sagen, muss aber nicht“ – es besteht also kein Zwang. „Man konnte auch nur zuhören“, so die Moderatorin. Doch es kommt wie immer anders. Ursula Hillbrands Erfahrungen aus vorigen Gruppen-Workshops wiederholen sich auch hier: Selbst, wenn sich anfangs bei manchen Berührungsängste mit den Formaten zum Mitmachen bemerkbar machen, geschieht am Ende doch das von ihr Erwartete: „Es ist, als hätten sie Blut geleckt – die Teilnehmer wollen nicht mehr aufhören!“
Entscheidend für Ursula Hillbrand, um den Dialog unter so vielen Menschen anzuregen, ist die Sensibilität der Teilnehmer dafür zu wecken, dass Abstimmungen und der Austausch in der Gruppe nicht nur mit dem Kopf geführt werden, sondern auch mit Händen und Füßen – und eben vor allem auch mit dem Herzen. In den USA werde als aktivierende Kraft bei Konferenzen immer die „Happiness“ hervorgehoben, im europäischen und deutschsprachigen Raum sei es jedoch die „Sinnhaftigkeit“, mit der man die Teilnehmer einfängt, denn jeder wolle stets etwas Sinnvolles tun. Und dieses Gefühl stellt sich bei den Teilnehmern der Session in Alpbach sehr schnell ein. So ist keiner mit seinem iPhone oder Laptop beschäftigt. „Sonst in den Vorträgen checken doch alle wie verrückt Mails“, hat Ursula Hillbrand beobachtet. Das ist bei partizipativen Formaten deutlich schwieriger, weil eben alle intensiv involviert und beschäftigt werden. Hillbrand achtet darauf, dass keiner am Rande oder ausgeschlossen bleibt – es sei denn, er will es so. Sie lehrt als Methode das so genannte „Art of Hosting”, das dem Bereich der Politik, jungen Entrepreneuren und NGOs entstammt und bekannte Methoden wie Open Space, World Café, Storytelling und weitere modernere Dialogformate für Groß- und Kleingruppen kombiniert. Am Ende steht bei den Ärzten in Alpbach ein Thesenpapier, das beim wissenschaftlichen Beirat der Konferenz eingereicht wird. „Die Leute waren verblüfft zu sehen, dass an nur einem Nachmittag drei intelligente Seiten zustande gekommen sind“, so Ursula Hillbrand zufrieden.
Was passiert, wenn 350 Chirurgen miteinander ins Gespräch kommen?
Was passiert, wenn sich 350 Chirurgen an ovalen Tischen über den Raum verteilen, in die Augen blicken und miteinander ins Gespräch kommen? Das war ein deutliches Kontrastprogramm zur bis dahin üblichen Anordnung, bei der die Delegierten oft stumm und nebeneinander einem frontal vortragenden Redner folgten. Die selbstständige Veranstaltungsplanerin Andrea Bauer war zuvor bereits fünf Jahre lang für den Veranstalter des Chirurgentags, den Berufsverband Österreichischer Chirurgen (BÖC), tätig. Bauer und Irene Kernthaler-Moser, Mehrenergie Consulting, hatten den Auftrag erhalten, die Konferenz so interaktiv wie nie zuvor zu gestalten. „Wertschätzende Kommunikation auf Augenhöhe zu ermöglichen statt zu einseitiger Selbstdarstellung und Profilierung im Top-Down-Modus einzuladen“, galt am Ende als Leitsatz für die Kommunikation unter den Delegierten.
World-Café erleichtert Kennenlernen
Leichte Berührungsängste gab es bei den World-Café-Sessions „Alle, die blieben, bewerteten aber auch die World-Café-Sessions in der Mehrheit als positive Erfahrung. Das Gros der Teilnehmer meinte, sie hätten durch das neue Format viel mehr neue Kolleginnen und Kollegen kennen gelernt, mehr diskutiert und auch viel mehr Input für die tägliche Praxis mitgenommen“ als bei den vorherigen Kongressen.„Interaktive Veranstaltungsformate sind grundsätzlich für jede Zielgruppe geeignet“, ist Bernd Fritzges überzeugt, Vorstandsvorsitzender bei der Vereinigung Deutscher Veranstaltungsorganisatoren. Dennoch müsse man Fritzges zufolge auf die richtige Ansprache der Teilnehmer achten und diese behutsam an neue Formate heranführen. Als Handreichung für Planer bietet der Verband ein Handout als Ergebnis eines intensiven internen Workshops, das unter dem Titel „Einblick in die neuen und klassischen Veranstaltungsformate“ bei Veranstaltungsplaner.de nun exklusiv für Mitglieder bereitsteht. „Es sollte immer hinterfragt werden, was im jeweiligen Kontext zumutbar ist, denn bei aller Interaktivität sollten die Veranstaltungsteilnehmer nicht überfordert werden“, so Bernd Fritzges.
Die Mischung aus althergebrachten und neuen Formaten ist dann sicher von Vorteil, die auch beim Österreichischen Chirurgentag genügend Optionen für unterschiedliche Teilnehmer-Interessen bot. „Vor allem ältere Teilnehmer sind nicht gewohnt, dass sie zu Teilgebern werden sollen“, stellt Gerhard Stübe fest, der Direktor des Festspielhauses Bregenz. Er will bei Tagungen mehr Möglichkeiten schaffen, sich einzubringen. Gerhard Stübe ist auch einer der Initiatoren des Projekts „micelab“, das alternative Tagungsformate erarbeitet und daraus ein ständiges Beratungs- und Schulungsangebot für die Tagungsbranche entwickelt hat.
Forscher für innovative Kongressformate
Seit drei Jahren erforschen die Netzwerke „Bodensee Meeting“ und „der kongress tanzt“ innovative Kongressformate und bringen dazu die Veranstaltungsbranche mit anderen Disziplinen wie Architektur, Theater oder Kommunikation in den Dialog. „micelab:bodensee“ besteht aus drei Modulen: „explorer“ konzentriert sich auf Forschung, „experts“ richtet sich an Mitarbeiter von Zentren, Agenturen oder Kulturinstitutionen. „Experience“ steht für einen künftigen regelmäßigen Kongress. Für eine Atmosphäre zu sorgen, in der mehr Teilnehmer zu „Teilgebern“ werden, ist für Stübe generell ein Herzensanliegen, das er auch als Vorstandsmitglied beim Europäischen Verband der Veranstaltungs-Centren (EVVC) verfolgt.
„Ich träume davon, dass sich wissenschaftliches Denken in der Gesellschaft verbreitet“, sagt Julia Offe, die als Wegbereiterin des Science Slams in Deutschland gilt. „Dass die Leute verstehen, dass Wissenschaft Spaß macht, dass sie jeden von uns angeht.“ Ihre Leidenschaft für die Biologie will die Wissenschaftlerin deshalb einem breiten Publikum nahebringen. In Hamburg erreichte sie 2005 ihren Doktortitel. Danach wollte sie ihr riesiges Wissen hinaustragen in die Welt. Als Veranstalter eine Sprache zu sprechen, die sowohl die Köpfe als auch die Herzen der Delegierten und des Publikums erreicht, ist jedoch nur so etwas wie eine notwendige Bedingung, die Grundvoraussetzung, um eine Gruppe insgesamt zu aktivieren und in den Dialog zu bringen.
Von Frank Wewoda, erschienen in der TwTagungswirtschaft im Oktober 2016
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